Rede bei der Gedenkveranstaltung für die Kornsand-Opfer am 21. März 2014 Hans-Peter Hexemer, Erster Vorsitzender des Geschichtsvereins Nierstein
Die Frage nach dem Warum stellt sich bis heute. Warum konnte dieses Verbrechen geschehen? Was waren seine Voraussetzungen? Wer hat dabei persönliche Schuld auf sich geladen und gab es darüber hinaus eine weiterreichende kollektive Verantwortung? Wer hätte dieses Verbrechen verhindern können – unmittelbar am Ort des Geschehens und schon lange davor? Warum mussten die Niersteiner Bürger Jakob Schuch, Cerry und Johann Eller, Nikes Lerch und Georg Eberhardt und der Oppenheimer Bürger Rudolf Gruber am 21. März 1945 sterben?
Der Nationalsozialismus hat 1933 nicht die Macht ergriffen – sie wurde ihm in die Hand gelegt. Von einem greisen, aber durchaus handlungsfähigen Reichspräsidenten, dem die Republik, an deren Spitze er stand, durchaus suspekt war. Nach dem Brand des Reichstagsgebäudes wurden die ersten Gegner verhaftet, in Lager gesperrt, Niersteiner Sozialdemokraten und Kommunisten kamen nach Osthofen, vom Rathaus am Marktplatz aus. Unter dem Gejohle einer Menschenmenge erfolgte der Abtransport auf Lkws. Doch die meisten standen abseits und schwiegen, als so begonnen wurde den Rechtsstaat außer Kraft zu setzen. Vorboten nur für alles, was noch kommen sollte.
Als die Nazis zum Boykott jüdischer Geschäfte aufriefen, gab es keinen Aufschrei.
Manche kauften trotzdem weiter ein beim Metzger Hirsch in der Rheinstraße, weil die Qualität gut war und die Preise meist etwas günstiger als bei anderen.
Als die bedrohten Menschen ihr Geschäft aufgeben und vor dem Abtransport in die Lager nach Mainz verbracht und in Judenhäusern zusammengepfercht wurden, gab es keinen Aufschrei – nur Schweigen. Immer mehr Gleichgültigkeit. In der Zeitung stand der zynische Kommentar, dass die Hirschs wohl unter Roosevelts Fittiche gekrochen seien, also nach den USA geflüchtet. Als bei den Novemberpogromen 1938 Häuser und Geschäfte überfallen und verwüstet, Menschen bedroht und verletzt wurden, kam ihnen niemand zu Hilfe. In der ausweglosen Situation nahm sich das Ehepaar Wolf aus der Rheinstraße im Rhein bei Mainz das Leben.
Niemand war der Hüter der Verfolgten, niemand kümmerte sich mehr um die Menschen, die Jahrzehnte in der dörflichen Gemeinschaft friedlich und in ihr engagiert gelebt hatten. Der Niersteiner Jude Gustav Blum konnte sich dieses Schicksal nicht vorstellen. Er war viele, viele Jahre lang Vorsitzender des Soldatenvereins Rhenania – als deutscher Jude so deutschnational, kaisertreu wie nur wenige andere. Was für ein Erwachen, dass die Kameraden von gestern ihn 1933 abservierten und kalt stellten. Niemand scherte sich mehr um Gustav Blum. Im Gegenteil, dem Weinhändler wurde wie so vielen ein fingierter Prozess gemacht wegen Betrugs. Waren die Menschen gestern noch angesehen, so wollte morgen niemand mehr ihr Hüter sein, sich um sie kümmern.
Gewiss hat Adolf Hitler in freien Wahlen nie die Mehrheit bekommen, selbst in Nierstein, der frühen Hochburg der Nazi-Partei nicht. Die Zahl seiner Unterstützer war hoch, die Zahl der Gegner und derer, die Widerstand leisteten war nicht unerheblich. Am gefährlichsten aber waren jene, und diese Zahl scheint mir die entscheidende, die sich gleichgültig verhielten, die keine Stellung nahmen, die zuschauten, geschehen ließen, was geschah. Sie erst haben möglich gemacht, dass die Entwicklung unumkehrbar war. Die biblische Frage: Soll ich der Hüter meines Bruders sein? – Diese Frage haben wir immer wieder neu zu beantworten, es ist eine zutiefst menschliche Frage. Und die Antwort hätte damals lauten müssen und sie muss heute lauten heute: Ja, Du sollst der Hüter Deiner Brüder und Schwestern sein. Wenn von Anbeginn der Schöpfung an immer nur das getan worden wäre, wozu wir als Menschen eigentlich befähigt sind – dann wäre Abel nicht umgekommen. Und Kains Gesicht hätte nicht vor Scham erröten müssen. 6 Millionen Menschen wären nicht in der Schoah ermordet worden. Wir müssten nicht das Kainsmal des Volkes der Täter tragen. Wenn – ja, wenn es nicht so viele Gleichgültige und Teilnahmslose gegeben, sondern mehr unserer Vorfahren als Christen, als Deutsche nur die Hüter ihrer Brüder und Schwestern gewesen wären!
Dann hätte vielleicht vieles und ganz konkret auch die Morde hier auf dem Kornsand verhindert werden können. Wer ist jenen NS-Funktionären mit dem Ortsgruppenleiter Bittel an der Spitze in Nierstein entgegen getreten, die die Listen der alten politischen Gegner herausholten und Menschen aussortierten, um sie zur Gestapo auf der anderen Rheinseite zu schicken? Wer jenem Fahnenjunker Funk, der sie von der Fähre zerrte, diese von ihm so genannten größten Lumpen und Verbrecher von Nierstein? Wer jenem Kampkommandanten Schniering, der die Ermordung am Wirtshaustisch befahl und wer jenem Leutnant Kaiser, der die Schüsse ausführte? Am Ende hat eine Person hier auf dem Kornsand die Tötungshandlungen, die Erschießung vorgenommen. Aber das wurde nur möglich, weil vielfach zuvor Gleichgültigkeit und Wegsehen Platz greifen konnten, weil Menschen nicht mehr die Hüter ihrer Brüder und Schwestern waren, weil sie sich angepasst hatten, ihren Mund nicht mehr aufmachten, ihr Handeln nicht für andere einsetzen, weil es ihnen letztlich egal war, was um sie herum passiert. Die allgemeine Moral, die grundlegenden Wertmaßstäbe waren schon lange vor der Mordtat an diesem 21. März 1945 abhanden gekommen.
Als die Leichen der Toten im April 1945 unweit von hier ausgegraben und nach Nierstein und Oppenheim hinübergetragen wurden – so formuliert es Jörg Adrian in seiner Kurzgeschichte „Die Fähre“ – standen viele am Wegesrand und waren froh nicht selbst mittragen zu müssen. Wir alle aber tragen mit – so oder so. Uns allen stellt sich über den Tod dieser Menschen hinaus die Frage, ob wir uns um andere zu kümmern bereit sind. Und so stellt sich auch heute die Frage, ob die Stadt endlich die noch in Nierstein vorhandenen Gräber von Opfern zu Ehrengräbern erklären wird – wir müssen auch dazu einen Standpunkt einnehmen. Wir dürfen nicht gleichgültig bleiben. Das sind wir den Opfer und ihren Nachfahren schuldig, das ist auch ein Stück Wiedergutmachung, damit setzen wir ein Zeichen. Diejenigen, die hier versammelt sind, dessen bin ich gewiss, wollen dieses Zeichen setzen und sagen mit mir „Ja“ zu dem Vorschlag der Ehrengräber für die Opfer.
Wenn wir also heute von hier weggehen, dann bitte in dem Bewusstsein, dass wir offenen Auges durch die Welt gehen. Gewiss leben wir heute in einem Rechtsstaat mit allen Garantien. Gewiss ist es Aufgabe aller staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen – jedes Menschen zu schützen. Das Recht aber lebt mit den Menschen und ihrer Moral – und es geht daran kaputt. Deshalb ist es auch vor allem unsere Aufgabe, sich immer wieder einzusetzen, dort, wo Mitmenschen bedroht werden – und es beginnt mit Worten und Drohgebärden und es kann schnell zu mehr führen, wenn wir nicht eingreifen. Haben wir den Mut Ja zu sagen und haben wir den Mut Nein zu sagen. Ja zu sagen zur einer offenen, toleranten und liberalen Gesellschaft, Nein zu sagen gegen jede Intoleranz, Ausgrenzung und Diskriminierung. Haben wir den Mut, die Hüter unserer Brüder und Schwestern zu sein.